Bern, 22. April 2023, Neue Zürcher Zeitung, Georg Häsler
Ein Militärflugzeug klinkt eine ballistische Lenkwaffe aus, irgendwo über internationalen Gewässern, vielleicht 1500 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. Das Ziel ist der Stern von Laufenburg. In dieser Schaltanlage im Kanton Aargau laufen die Stromnetze Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz zusammen. Schlägt die Rakete ein, gehen im wirtschaftlichen Zentrum Europas die Lichter aus. Ein maximaler Effekt mit überschaubarem Eskalationsrisiko: Ein solcher Angriff löst keinen Bündnisfall aus. Die Schweiz geht bekanntlich den militärischen Alleingang.
Auch in Zukunft ist die Schweizer Armee nicht in der Lage, alle kritischen Infrastrukturen gleichzeitig gegen dieses Szenario zu schützen. Die Abwehr von Bedrohungen aus der Luft ist eine internationale Verbundaufgabe: Keine Luftwaffe Europas hat eine flächendeckende Boden-Luft-Verteidigung. Deshalb soll jetzt ein gemeinsames, europäisches System entstehen. Doch die Schweizer Armee kann vorerst nicht zum Aufbau der «European Sky Shield»-Initiative beitragen – und begründet dies mit der Neutralität.
Damit die Schweiz mit ihren Stauseen, Tunneln, Luftstrassen und Datenzentren nicht zum Risikogebiet für die europäische Sicherheit wird, versucht das Verteidigungsdepartement (VBS) die Kooperation mit den militärischen Nachbarn dennoch so weit wie möglich auszubauen. Es ist ein Drahtseilakt zwischen schweizerischem Eigensinn und den Interessen der Partner. Diplomatisches Geschick ist gefragt. Deshalb ist es richtig, dass nun auch das VBS ein Staatssekretariat erhält, wie der Bundesrat am Mittwoch beschlossen hat.
Die SVP wetterte umgehend gegen die Ankündigung der VBS-Chefin Viola Amherd. Die Abneigung gegen eine vertiefte Zusammenarbeit mit der Nato begründet die stärkste Partei der Schweiz unterdessen mit unverhohlenem Antiamerikanismus. Der Tanz um die Neutralität blockiert zurzeit jeden Millimeter sicherheitspolitischer Handlungsfreiheit. Wohl auch deshalb hat Amherd den Zweck des neuen Staatssekretariats vor allem als ziviles Pendant zur Armee angepriesen, um hybriden Bedrohungen besser begegnen zu können. Doch diese Etikettierung ist gleich zweifach falsch: Erstens geht es im Kern immer um die Verteidigung der Landesinteressen, auch bei unkonventionellen Angriffen unterhalb der Kriegsschwelle. Zweitens soll das neue Staatssekretariat nicht gleich noch die Aufgaben des permanenten Krisenstabs aufsaugen, den der Bundesrat schaffen will.
Diese Ankündigung von Ende März ging in der Aufregung um die Bankenrettung etwas unter. Der Bundesrat will nach den Erfahrungen aus der Pandemie und dem Schock über den russischen Angriff auf die Ukraine das Krisenmanagement verbessern – insbesondere die Antizipation und die Zusammenarbeiten der verschiedenen Akteure. Genau solche Aufgaben strich die VBS-Chefin bei der Präsentation ihres neuen Staatssekretariats hervor. Es riecht alles etwas nach einer bürokratischen Turnübung.
Klar wurden in beiden Fällen, beim Krisenmanagement und beim Staatssekretariat, erst die Grundsatzentscheide gefällt: Beide gehen in die richtige Richtung, aber die Gefahr von Doppelspurigkeiten besteht akut. Gefragt ist eine klare Abgrenzung: Der permanente Krisenstab ist ein ziviles Gremium zur Vorsorge und Koordination. Deshalb soll er der Bundeskanzlei unterstellt werden. Das Staatssekretariat im VBS dagegen muss der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit den ausländischen Partnern dienen. Doch dafür braucht es zuerst Szenarien über mögliche, aber auch gefährliche Bedrohungen wie einen Raketenangriff auf eine kritische Infrastruktur. Dazu ein umfassendes Konzept über eine glaubwürdige Landesverteidigung – mit Varianten, je nach Ausgang der Neutralitätsdebatte. Gegen mehr Gewicht für die Sicherheit ist nichts einzuwenden. Nur sollte der Bundesrat zuerst über den Inhalt, dann erst über die Form entscheiden.