Nach dem definitiven Ja zum F-35 als neuem Kampfflugzeug für die Schweizer Luftwaffe besteht endlich Raum für eine vertiefte Diskussion über die Schweizer Sicherheitspolitik. Ein Konzeptionsstreit zwischen Nato-Turbos und Neutralitätsfreunden wäre wohltuend.
Für die Schweizer Armee beginnt eine neue Zeitrechnung, sobald die Tinte unter dem Vertrag mit der US-Regierung über die Beschaffung des F-35 trocken ist.
Das ewige Quartettspiel um ein neues Kampfflugzeug ist zu Ende. Ein letztes Mal haben am Donnerstag die Gegnerinnen und Gegner des US-Jets F-35 alle ihre Argumente und Parolen heruntergespult: die US-Regierung im Cockpit, der Mirage-Skandal und das Fixpreis-Angebot aus Washington. Amerikaner gegen Europäer. Böse Bomber, nein danke. Ein bisschen Luftpolizei reicht. Die finale Debatte im Nationalrat wirkte unwirklich, aus der Zeit gefallen.
Beide Räte haben nun den Typenentscheid des Bundesrats bestätigt: Die Schweizer Armee beschafft den F-35 als neues Kampfflugzeug. Bundesrätin Viola Amherd, die Chefin des Verteidigungsdepartements (VBS), erhält vom Parlament den Auftrag, den Vertrag mit der US-Regierung bis am 31. März 2023 zu unterschreiben. Zu Recht wird die Veto-Initiative aus der Küche der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee nicht abgewartet.
Doch über dem Geschäft liegt ein Schatten: Es brauchte einen brutalen Angriffskrieg in Europa, um einen sachlich und auch politisch richtigen Entscheid energisch umzusetzen. Der F-35 bedeutet einen technologischen Quantensprung für die Schweizer Armee. Zudem hat sich der Bundesrat mit dem US-System wesentlich mehr politische Handlungsfreiheit offengelassen als mit einem europäischen Typ.
Frankreich muss ein wichtiger Partner bleiben
Mit der Rafale als neuem Kampfflugzeug hätte sich die Schweiz militärisch zu stark an Frankreich angelehnt. Der französische Jet bleibt ein Nischenprodukt. Der F-35 dagegen wird in der westlichen Welt zur Standard-Plattform. Für die Schweizer Armee ergibt dies wesentlich mehr Kooperationsmöglichkeiten: multilateral im Rahmen der Nato, aber auch bilateral.
Neben den US-Streitkräften bleibt Frankreich der wichtigste Partner der Schweiz, auch ohne gemeinsame Kampfjet-Flotte. Bereits heute arbeiten die beiden Armeen eng zusammen: bei der Luftbetankung oder in der Cyberabwehr. Zudem wird sich die Schweizer Armee in Zukunft beim französischen Satellitensystem «Composante Spatiale Optique» einklinken.
Die «force de frappe», die Schlagkraft mit den eigenen Atomwaffen, zwingt Paris, ein unabhängiges militärisches Gesamtsystem zu betreiben. Deshalb ist Frankreich auch technologisch und industriell weiterhin stark aufgestellt.
Daran wird sich in näherer Zukunft nichts ändern. Mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro holt Deutschland nur längst fällige Investitionen nach. Die Bundeswehr ist weit davon entfernt, mit den Streitkräften Frankreichs mitzuhalten. Auch das österreichische Bundesheer bleibt auf absehbare Zeit geschwächt. Nördlich und östlich der Schweiz herrscht eine militärische Leere.
Pflege von externen Beziehungen der VBS-Chefin
Doch ausgerechnet der westliche Nachbar ist verärgert über die Schweiz. Der Bundesrat hat den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dessen Regierung vor den Kopf gestossen: nicht mit dem Entscheid für den F-35, sondern mit den widersprüchlichen Signalen, die Bern im Frühsommer 2021 aussandte.
Die eine Hand wusste nicht, was die andere tat. Während für das VBS längst klar war, dass der F-35 in der Evaluation uneinholbar das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufwies und damit kein Spielraum mehr für politische Gegengeschäfte bestand, liefen die Gespräche der anderen Departemente mit Paris weiter. Zu lange glaubte Frankreich an einen Rafale-Handel mit Bern.
In einem Interview mit der NZZ sprach Bundesrätin Amherd diese Woche von Missverständnissen in der Landesregierung. Durchaus selbstkritisch nimmt sie die interne Kommunikationspanne auf sich. Im Bundesrat ist der Streit um den Kampfjet damit beendet. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, um das grösste Rüstungsgeschäft zügig und vor der Behandlung der Anti-Kampfjet-Initiative abzuschliessen.
Jetzt, wo sie im Parlament die letzte Hürde der Kampfjet-Beschaffung geschafft hat, sollte sich die VBS-Chefin dringend auch um die Pflege der externen Beziehungen kümmern – vor allem jener mit Frankreich. Die gemeinsamen Interessen überwiegen die Differenzen bei der Kampfjet-Beschaffung bei weitem.
Kooperativ, neutral und selbstbewusst
Während die Schweiz und die EU weiter nicht in der Lage sind, ihr Verhältnis neu zu regeln, besteht in der Sicherheitspolitik mehr Spielraum in der internationalen Kooperation. Die westlichen Staaten und insbesondere Frankreich sind auf einen Schweizer Beitrag zur Sicherheit Europas angewiesen. Aus der Sicht von Paris schützt die Schweizer Luftwaffe die schwache Ostflanke im Alpenraum.
Die USA haben der Schweiz mit einem sehr guten Angebot für den F-35 und dem bodengestützten Luftverteidigungssystem Patriot wieder starke Mittel in die Hand gegeben. Die VBS-Chefin Amherd hat deshalb am Sitz des nordatlantischen Bündnisses in Brüssel eine gute Ausgangslage für Verhandlungen über eine vertiefte Partnerschaft mit der Nato. Washington hat Bern ganz bewusst bevorzugt behandelt.
Die Schweiz soll in Europa eine sicherheitspolitische Konstante bleiben. Auch die Rahmenbedingungen sind klar: Die neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen sind die Basis der schweizerischen Sicherheitspolitik. Selbst kleinste Retuschen haben einen schweren Stand. Die Idee einer kooperativen Neutralität ist bereits im Bundesrat krachend durchgefallen.
Dies beschränkt die sicherheitspolitischen Möglichkeiten eigentlich nicht. Nach den Nato-Beitritts-Gesuchen von Schweden und Finnland ist die bewaffnete Neutralität beinahe ein schweizerisches Alleinstellungsmerkmal: Österreich und Irland sind nicht mit der Schweiz vergleichbar. Gerade für die militärische Friedensförderung ist dies eine gute Voraussetzung. Die Schweizer Armee kann kooperieren, neutral und selbstbewusst.
Interne Vernetzung, externe Schnittstellen
Die wohl grösste Herausforderung einer eigenständigen Sicherheitspolitik ist der technologische Fortschritt. Die modernen Waffensysteme bringen erst im Verbund ihre volle Leistung. Deshalb beginnt für die Schweizer Armee eine neue Zeitrechnung, sobald die Tinte unter dem Vertrag mit der US-Regierung über die Beschaffung des F-35 trocken ist.
Das neue Kampfflugzeug der fünften Generation, ein fliegender Grossrechner, muss ins militärische Gesamtsystem der Schweiz integriert werden, damit die Fähigkeiten der Plattform auch wirklich genutzt werden können. Der F-35 und auch das Patriot-System stossen faktisch eine digitale Erneuerung der Armee an.
Dies ist eine Chance für den Forschungs- und Industriestandort Schweiz, um die technologische Kompetenz im Sicherheitsbereich auszubauen. Denn die Schweiz als Nicht-Nato-Mitglied ist dabei gezwungen, eine Insellösung für den hochvernetzten F-35 aufzubauen.
Das Ziel muss sein, den sogenannten Sensor-Führungs-Wirkungsverbund zu beschleunigen: Wenn der Datenstaubsauger in der Luft ein Ziel erkannt hat, muss eine rasche Entscheidung erfolgen, ob und wie dieses bekämpft wird.
Die Luftwaffe und die Bodentruppen werden viel enger zusammenarbeiten als bisher. Dies bedingt integrierte Führungssysteme, allenfalls auch in Zusammenarbeit mit den zivilen Behörden.
Denn gerade in einer uneindeutigen, hybriden Lage müssen die Armee, die Polizei und andere Akteure über die gleichen Informationen und Prozesse verfügen. Gleichzeitig braucht es Schnittstellen für die Kooperation mit ausländischen Partnern wie der Nato.
Dissuasion bleibt die Raison d’être der Armee
Die Schweiz hat nun die Chance auf einen sicherheitspolitischen Neustart. Nach über zehn Jahren Kampfjet-Drama ist der Vorhang endgültig gefallen. Die Existenz der Luftwaffe ist gesichert. Die Sicherheitspolitik kann sich von den verkrusteten Denkmustern der 1990er Jahre lösen.
Es geht längst nicht mehr um den Status der Armee in Staat und Gesellschaft, sondern um das konkrete Zusammenwirken der verschiedenen Sicherheitsinstrumente in unterschiedlichen Situationen. So ist die Schweiz genauso wie andere Länder Desinformationskampagnen ausgesetzt. Dagegen helfen innere Stärke und ein glaubwürdiger Wille, die eigene Souveränität zu schützen.
Das wichtigste Mittel der strategischen Kommunikation dafür bleibt die sogenannte Dissuasion. Einem Gegner soll ein Angriff auf die Schweiz «abgeraten» werden: Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, hiess ein Merksatz im Kalten Krieg. Die Schweizer Armee muss in der Lage sein, einen Krieg auf Distanz zu halten.
Ähnlich wie in den 1960er Jahren zeichnet sich nun ein neuer Konzeptionsstreit ab: Die Nato-Turbos wollen möglichst viel Kooperation, den Neutralitätsfreunden von rechts und links fehlt der gemeinsame Nenner. Entscheidend ist die Formel: Je strikter die Schweiz ihre Neutralität auslegt, desto länger muss sie militärisch selbständig durchhalten können.
Die Kriegstauglichkeit bleibt in allen Fällen die entscheidende Voraussetzung, insbesondere im Fall einer Kooperation. Dies bedingt eine Rückbesinnung der Armee auf ihre Kernkompetenz des militärischen Handwerks. Nach dem Ende der Kampfjet-Debatte gibt es endlich wieder Raum für die Auseeinandersetzung mit den grossen, strategischen Linien der Sicherheitspolitik.