Oberst aD Dan Urech, Mollis, Leiter Strategiekommission Pro Militia
1. Geopolitische Herausforderung
Heute ist die grosse geopolitische Herausforderung die Konfrontation zwischen China und den USA. Die Europäer haben andere Sorgen. China wird zum gefährlichen Spaltpilz. Russland hat sich während des Ukraine-Krieges strategisch näher an China angelehnt. Es ist Peking offenbar gelungen, in der Taiwan-Frage einen Keil zwischen die nordatlantischen Partner zu treiben. Der französische Präsident Macron hat mit seinem China-Besuch Taiwan einen Bärendienst erwiesen. Ein Krieg um Taiwan ist wahrscheinlicher geworden.
Wenn Russland im Ukraine-Krieg mit einer Eskalation droht und China zugleich einen Angriff auf Taiwan andenkt, haben die Amerikaner ein Problem. Wollen sie ihre globale Führungsrolle aufrechterhalten, benötigen sie die Unterstützung ihrer Verbündeten. Dies funktioniert am besten über das Narrativ «Demokratien contra Autokratien». Es geht Washington dabei auch um die Mobilisierung von mehr Verteidigungsressourcen innerhalb der Nato, damit die USA einen freien Rücken bekommt für ihre Priorität: den Indopazifik.
Europa ist keine pazifische sondern eine eurasische Macht. Die unmittelbare Bedrohung lauert im Osten mit dem Imperialismus von Moskau, im Mittelmeer in der arabischen Krisenregion und in Afrika mit seinen Migrationsströmen. Während Ursula von der Leyen die Abhängigkeit Europas von China soweit als möglich reduzieren möchte, provoziert die deutsche Aussenministerin Annalea Bärbock China mit ihrer Schulmeisterei zu Taiwan und den Menschenrechten. Derzeit ist die EU nicht in der Lage, eine eigenständige China-Politik zu betreiben. Im Indopazifik bleibt Europa ein Zaungast.
Der französische Präsident liegt mit seiner Forderung falsch, die EU müsse ihr Heil in einer strategischen Autonomie suchen, unabhängig von Washington. Der Ukraine-Krieg zeigt jeden Tag wie sehr der alte Kontinent auf die amerikanische Sicherheitsgarantie, besonders des nuklearen Schutzschirms angewiesen ist. Ohne die amerikanische Waffenhilfe für Kiew stünden Putins Soldaten heute mitten in Europa. Die USA erwarten zu Recht eine Gegenleistung über das vereinbarte Mass von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Die drei europäischen Führungsmächte Deutschland, Frankreich und Grossbritannien wirken, jede auf seine Weise, rückwärtsgerichtet. Man vertraut besser Amerika und eine lebendige transatlantische Partnerschaft oder man findet sich damit ab, dass Peking seinen Machtanspruch durchsetzt.
2. Die Rolle der Schweiz
Die Armeereformen seit 1995 wurden immer wegen Personal- und Finanzmangel durchgeführt, nicht aus geostrategischen Überlegungen. Es wäre nun wirklich an der Zeit, wenn im Bundesrat und insbesondere im Parlament strategisch zu denken begonnen würde. Das fängt an mit dem Bundeskanzler. Sein Interview kürzlich in der NZZ übertrifft sogar alle schlimmen Erwartungen. So kann die Schweiz keinen Schritt weiter kommen: Tagesgeschäftli, Mikromanagement, Selbstverteidigungsübungen. Und wo bleibt das strategische Denken oder nur schon das Bewusstsein, dass es daran mangeln könnte?
Die Armee sieht nämlich vollkommen anders aus, ob die Schweiz
- versucht sich autonom zu verteidigen
- ohne NATO-Beitritt die Verteidigung mit mit der NATO koordiniert und vorbereitet
- der NATO beitritt.
Szenario 1: Alleingang
Um es in aller Brutalität zu sagen: die Schweiz kann sich gar nicht mehr autonom verteidigen. Es fehlt uns angesichts der modernen Waffentechnologie die strategische Tiefe und es würde uns unsinnige Kosten verursachen. Selbst 2% des BIP würden nicht ausreichen. Heute investieren wir 0,7% = 5 Milliarden pro Jahr
Szenario 2: Kooperation mit NATO
Die Schweiz ergreift in einem Konfliktfall in Übereinstimmung mit der UNO-Charta klar Partei für die angegriffene Seite und trifft alle Vorbereitungen, damit sie den dazu notwendigen politischen und militärischen Handlungsspielraum erhalten kann.
Sie kooperiert eng mit der NATO in den Bereichen Doktrin, Organisation, Rüstungsbeschaffung, Führungsprozesse und Ausbildung.
Sie ist bereit, im Fall eines Angriffs auf die NATO, die NATO militärisch zu unterstützen. Die NATO wird aber nur mit uns zusammenarbeiten und uns notfalls beistehen wollen, wenn wir bereit sind, einen substanziellen Beitrag an die Verteidigung Europas zu leisten.
Szenario 3: NATO-Beitritt
Dieser ist zurzeit nicht möglich, da wir die Neutralität mit mythologischen Geschichten umranken und – noch viel schlimmer – nicht wahrhaben wollen, dass wir sicherheitspolitisch Teil Europas sind – und auch einen Beitrag zur Sicherheit leisten sollten.
Szenario 4: Abschaffung der Armee.
Das ist kostengünstig, birgt aber ein Restrisiko. Ich bin nicht sicher, ob die USA uns verteidigen wollen. Ich bin aber sicher, dass die Bundeswehr uns nicht verteidigen kann.
3. Was ist zu tun?
Diese Frage muss von zwei Blickwinkeln her beantwortet werden. Vom ersten Blick her: WAS ist zu tun? Und vom zweiten Blickwinkel her: WIE ist das WAS zu tun?
Zum Was?
Schnellschüsse sind definitiv nicht gefragt. Das Parlament hat letztes Jahr den Antrag des VBS um 300 Mio. überschossen und zusätzliche 12cm Mörser (Panzerminenwerfer) bestellt. Gewisse Parlamentarier sind sehr stolz auf diesen Entscheid. Ich meine, das sei etwa das einzige Waffensystem, dessen Einführung nicht dringlich sei.
Hingegen müssten wir sofort Kampfdrohnen und ein Raketenartilleriesystem mit einer Reichweite von über 150km beschaffen. Und wir müssen dringend unsere mickrigen Munitionsbestände aufstocken. Heute verfügen wir praktisch nur noch über die Ausbildungsmunition. Nur: die Rüstungsindustrie ist in den letzten Jahren auch heruntergefahren worden. In der Schweiz gibt es praktisch nichts mehr, weil wir nichts gekauft haben und sie nichts exportieren darf. Zudem gibt es seit der Entwicklung des Leopard II und des M-1 Abrams auch keinen neuen Kampfpanzer auf dem Markt.
Der Verteidigungshaushalt ist nicht gleich Investitionsvolumen. Die Betriebskosten einer modernen Armee mit all ihren elektronischen Komponenten sind enorm. Wenn wir 40% des Verteidigungshaushaltes in die Rüstung investieren können, sind wir bereits gut.
Wenn der Bundesrat also im Bundesbudget 2024 bereits wieder vom Auftrag des Parlaments abrückt, dann heisst das nicht nur weniger investieren, sondern auch weniger fahren, schiessen und fliegen – oder im Klartext: weniger gut ausbilden.
Konsequenzen aus dem Blickwinkel zum WAS?
- Wir müssen uns der Realität stellen. Die geostrategische Lage hat sich vollkommen verändert. Die Waffentechnologie auch. In einem ersten Schritt brauchen wir deshalb eine ehrliche strategische Auslegeordnung. Der Sicherheitspolitische Bericht 2021 macht zwar eine gute Analyse. Handlungsrelevante Konsequenzen zieht er aber keine. In einem vom Parlament verlangten Zusatzbericht schreibt der Bundesrat immerhin, dass er – unter Einhaltung der Neutralität – die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Schweiz konsequenter als bislang auf internationale Zusammenarbeit ausrichten will. Zudem soll die Modernisierung der Fähigkeiten und Mittel der Armee vorangetrieben werden.
- Der Bundesrat hat aus dem Bericht „Zukunft der Bodentruppen“ die Variante 2 gewählt. Das ist etwas mehr als reine Schutzinfanterie und Rettungstruppen. Es sollen aber keine gepanzerten Kettenfahrzeuge mehr beschafft werden, also keine Kampfpanzer und Schützenpanzer. Das ist wohl nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine erklärungsbedürftig und muss neu beurteilt werden. Der bundesrätliche Entscheid war rein finanzgetrieben.
Das Parlament hat als Folge des Angriffs Russlands vom 24. Februar 2022 beschlossen, die Ausgaben für die militärische Landesverteidigung bis 2030 schrittweise auf mindestens 1% der Wirtschaftsleistung (BIP) zu erhöhen. Heute sind es nur 0.7%. Ein solches Wachstum ist unter dem Regime der Schuldenbremse nur möglich, wenn das Parlament gleichzeitig ein rabiates Sparpaket schnürt oder die Steuern erhöht. Obwohl das 1%-Ziel ein verbindlicher Auftrag an den Bundesrat ist, weicht dieser bereits jetzt davon ab. Statt einer Erhöhung des Militärbudgets 2024 um 8% sind es nur 2,7%. Mit diesem Takt würde das Expansionsziel erst 2035 erreicht statt 2030.
Ich zitiere an dieser Stelle Brigadier Daniel Lätsch. Er war Chef der Generalstabsausbildung und ist Mitglied unseres Advisory Boards: „Wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgeht, weiss ich nicht. Ich weiss aber, dass der Bundesrat am Tag nach dem Waffenstillstand das Rüstungsbudget nach unten korrigieren wird“.
- Die Armee kann aber in einigen Jahren den Auftrag ohnehin nicht mehr erfüllen, wenn wir nicht die katastrophal hohen Abgänge von Wehrdienstpflichtigen in den Zivildienst auf der Stelle stoppen. Im Jahr 2022 hat die Armee ca. 9’000 Mann verloren. Nicht aus Gewissengründen, sondern weil der Zivildienst bequemer ist und mehr Vorteile für Studium und Beruf bieten.
Nun zur Frage: WIE ist das WAS zu tun?
Wie die Sicherheitspolitik und die Verteidigungspolitik genau aussehen, ist die Folge von Entscheiden, welche Personen treffen, ob sie jetzt in der Verwaltung, in den Parlamenten oder in den Gerichten arbeiten. Welche Faktoren beeinflussen diese Entscheide? Es sind das Wissen um sachbezogene Details und um Zusammenhänge. Dieses Wissen wird durch die rationale Intelligenz gesteuert, sowie die Fähigkeit einer Person, in Situationen «richtig» zu entscheiden. Mit dem Wort «richtig» ist meistens das Wort «gut» gemeint. Richtig und gut sind nicht immerzu das Gleiche.
Das WIE wird durch die angeborene Moral und die persönlichen Erfahrungen geprägt und braucht gute Selbsterkenntnis und hohes Verantwortungsbewusstsein. Nach bestem Wissen und Gewissen wird ein Urteil darüber gefällt, ob die Handlung gut oder böse ist. Das Gewissen ist jene Instanz, welche die Frage beantwortet: Werde ich morgen mit der Vergangenheit leben können, die ich heute mir und dem anderen bereitet habe.
Fazit
Katastrophal ist, worüber sich das Parlament nicht einig werden kann, wie wir mit dem Ukraine-Krieg und damit verbundenen Waffen umgehen sollen. Soll die Schweiz allen Ländern verbieten, Schweizer Waffen in das Kriegsgebiet zu schicken? Sind wir bereit, dafür die Konsequenzen zu tragen, wenn wir einmal Solidarität brauchen oder wenn sich die Rüstungsindustrie aus der Schweiz verabschiedet? Wie Georg Häsler in seinem NZZ-Beitrag vom 13. Mai feststellt, ist die sicherheitspolitische Kommission des Ständerats auf eine Idee des Nationalrates eingetreten, wie die Schweiz die Wiederausfuhr der Piranha-Schützenpanzer und der Gepard-Munition an die ukrainische Armee bewilligen könnte.
Es geht um mehr als um die Wiederausfuhrbestimmung im Kriegsmaterialgesetz (KMG). Es braucht eine Neuausrichtung der Schweizer Sicherheitspolitik. Der Westen wurde am 24. Februar 2022 in eine brutale sicherheitspolitische Realität katapultiert. Wie soll sich die Schweiz angesichts des neuen unmenschlichen Krieges in Europa sicherheits- und neutralitätspolitisch positionieren und verhalten? Unsere Broschüre „Neutralitätspolitik und Völkerrecht“ soll ein Kompass sein um die Haltung unseres Landes.
Wir sind gerade mit drei apokalyptischen Szenarien konfrontiert: den Klimawandel, des Angriffskriegs mit der russischen Invasion in der Ukraine und der wachsenden internationalen Spannung in Ostasien mit Taiwan, die zu einem weiteren Weltkrieg führen könnten.
Wenn wir dazu beitragen wollen, dass die freiheitlich demokratischen Staaten des Westens nicht untergehen, sollten wir wohl besser etwas tun gegen die Autokratien, die seit einigen Jahren überall entstehen. Da reichen aber Diplomatie und ‘gute Dienste’ nicht. Fromme Sprüche und Neutralität helfen dem Aggressor. Die Schweiz hat als Mitglied der UNO das Recht und die Pflicht, sich an Massnahmen zur Wiederherstellung der kollektiven Sicherheit, wie in der UNO Charta festgelegt, zu beteiligen.
Wenn es unserem Land im Lichte eines Angriffskrieges auf unserem Kontinent jetzt nicht gelingt, unserer Armee wiederum eine glaubwürdige Verteidigungsfähigkeit zurückzugeben, schaffen wir es nie mehr dem sicherheitspolitischen Auftrag unserer Bundesverfassung gerecht zu werden