Neue Zürcher Zeitung, Georg Häsler, Bern 04.02.2022, 18.10 Uhr
Nicht nur Russland, auch der Westen zeigt Zähne. Die USA verschieben kampferprobte Verbände nach Europa.
Die militärische Spannung zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer steigt mit jedem Tag. Zurzeit verschiebt die US Army, die amerikanischen Landstreitkräfte, kampferprobte Verbände nach Europa. Teile der 82. Airborne Division, die schon den Abzug aus Afghanistan abgesichert hat, sollen die Abwehrbereitschaft in Polen unterstützen.
Gleichzeitig wird ein verstärktes Bataillon des 2. US-Kavallerieregiments, ein Kampfverband, von Deutschland nach Rumänien verschoben. Bereits jetzt sichern zwei niederländische F-35 den bulgarischen Luftraum. Damit wird die Mechanik der Übung «Defender Europe 21» vom Frühsommer des letzten Jahres in echt umgesetzt. Nicht nur Russland, auch der Westen zeigt Zähne.
Weit weg von der Gegenwart regen sich derweil in der Schweiz linke Politikerinnen und Politiker über technische Testszenarien bei der Evaluation des neuen Kampfflugzeugs auf. Natürlich musste die Beschaffungsbehörde Armasuisse auch Kriegsszenarien überprüfen. Es ist beruhigend, dass der Entscheid für den F-35 auch militärisch auf soliden Grundlagen steht.
Emotionales Kalkül
Eher erstaunlich ist hingegen, dass die gestellten Aufgaben nicht dem «level of ambition» der Schweizer Luftwaffe entsprechen sollen. Dies hängt vor allem mit einer extremen Zurückhaltung des Verteidigungsdepartements (VBS) zusammen. Die sicherheitspolitische Doktrin orientiert sich noch immer daran, innenpolitisch ja nicht anzuecken.
Besonders quer legt sich die Bundesratspartei SP. Noch immer bekämpft sie vehement die Idee einer aktiven Verteidigung, also die Möglichkeit der Armee, im Fall eines bewaffneten Konflikts mit offensiven Aktionen die Entscheidung zu suchen. Dafür braucht es unter anderem Kampfflugzeuge.
Die defensive Position der SP war in der Vergangenheit intellektuell durchaus vertretbar. Denn wer die Schweiz am Boden erobern will, kämpft zuerst gegen das Gelände. Die Alpen, die Jura-Ketten und die Gewässer verlangen von einer konventionellen Armee einen überdurchschnittlich hohen Kräfteansatz, damit diese erfolgreich vorstossen kann.
Bis Ende der 1990er Jahre nutzte die Armee diesen Vorteil. Überall gab es vorbereitete Sperrstellen mit Sprengobjekten und Feuer der Artillerie aus verbunkerten Stellungen. Heute ist davon nichts mehr übrig. Den harten Kern der Armee bilden die Reste der einstigen Offensivkräfte.
Doch wo war die SP? Jahrelang haben die Theoretiker der Defensive auf dem SP-Sekretariat zugeschaut, wie das VBS alle Geländeverstärkungen abbaute. Dies trägt zum Eindruck einer unglaubwürdigen Sicherheitspolitik der SP bei, die überdies gemäss Parteiprogramm die Armee grundsätzlich abschaffen will. Pazifismus kommt emotional nach wie vor besser an als Militär.
Dazu gehört ein sorgsam gepflegtes Geschichtsbild vom Zweiten Weltkrieg. Der Beitrag der Armee zur Unversehrtheit der Schweizer Bevölkerung wird konsequent kleingeredet. Wer allerdings je in einer Festung war, ahnt die Anstrengungen, die damals in kürzester Zeit unternommen worden waren – und zwar nicht nur im Reduit, sondern auch entlang der Landesgrenzen.
Militärische Rolle der Schweiz im Kern Europas
Heute ist eine Ausrichtung der Armee ohne Offensivkraft kaum mehr vorstellbar. Ist die Kriegsschwelle einmal überschritten, müssen potenzielle Gefahren ausgeschaltet werden können, bevor diese die Schweiz treffen. Allein die Fähigkeit dazu ist ein Beitrag zur Kriegsverhinderung. Staaten ohne glaubwürdige Landesverteidigung bilden ein gefährliches Vakuum.
Dies ging nach dem Ende des Kalten Kriegs vergessen. Doch die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konvention muss dringend wieder lernen, über Krieg zu reden. Schon nur der Blick auf die andere Seite der Landesgrenze zeigt, welche Rolle der Schweiz sicherheitspolitisch zukommt.
Österreich ist militärisch ganz vom guten Willen der Nato und der EU abhängig, eigentlich auch Deutschland, das zudem auf russisches Gas angewiesen ist. Italien legt sein Schwergewicht aufs Mittelmeer, Frankreich verfolgt eine eigene, machtpolitische Agenda – nicht nur in Europa, sondern global.
Verschlechtert sich die gegenwärtige Lage weiter – ob in der Ukraine oder zusätzlich noch im Pazifik –, muss sich Europa auf die bewaffnete Neutralität der Schweiz verlassen können. Betroffen ist davon zuerst der Luftraum. Deshalb hat die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge eine hohe Dringlichkeit. Aber auch Sabotagen am Boden, etwa auf Stromleitungen, könnten für den ganzen Kontinent verheerende Folgen haben.
Die Schweiz hat bei der Ausweitung eines bewaffneten Konflikts keine Bündnisverpflichtung, sie muss aber bündnisfähig sein, falls ihre Souveränität verletzt wird. Weder die europäischen Nachbarn noch die Amerikaner haben bei einem grossen Krieg an zwei Schauplätzen genug Kraft, den wirtschaftlichen Motor des Kontinents, den Alpenraum, hinreichend zu schützen.