Weltwoche, 28. April 2022 / Stefan Holenstein, Präsident LKMD
Der Ukraine-Krieg schafft neue Fakten und Dimensionen. Er zeigt uns schonungslos auf, dass Sicherheit und Freiheit in Europa keine Selbstverständlichkeiten sind. Die neutrale Schweiz muss ihre Verteidigungsbereitschaft hoch halten. Aufgrund der weiterhin unsicheren Entwicklung des Krieges ist selbst eine mittelbare militärische Bedrohung der Schweiz nicht unwahrscheinlich. Aber sind wir tatsächlich auch abwehrbereit und verteidigungsfähig? Derzeit nur bedingt.
Trümpfe der Milizarmee
Es ist eine Tatsache, dass unser Land nur noch 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für die Verteidigung aufwendet – das ist im europäischen Vergleich bedenklich wenig. Wenn die meisten europäischen Staaten bestrebt sind, rund 2 Prozent ihres BIP auszugeben, muss die bündnisfreie Schweiz im Minimum 1 Prozent bereitstellen können, was rund sieben Milliarden Franken pro Jahr entspricht (heute: fünf Milliarden). Hier gilt es, anzusetzen, um die Mittel für die dringend notwendige Revitalisierung und Modernisierung der Schweizer Armee freizubekommen.
Die Schweizer Armee «Ausgabe 2022» verfügt über einige gewichtige Trümpfe. Seit dem 1. Januar 2018 läuft die Umsetzung des grössten Armee-Reorganisationsprojekts der letzten zwanzig Jahre, die «Weiterentwicklung der Armee» (WEA). Diese Reform darf sich im Vergleich zu den früheren, teilweise verunglückten Reorganisationen, wie es etwa die Armee XXI war, im Ergebnis durchaus sehen lassen.
Die WEA beruht auf dem für die Schweiz bewährten Wehrpflicht- und Milizsystem, einem nach wie vor unvergleichlichen Erfolgsmodell, um welches uns das Ausland so sehr beneidet. Der Sollbestand der Armee beträgt 100 000, der Effektivbestand 140 000 Armeedienstangehörige. Die Vorteile der WEA gegenüber vorher: eine höhere Bereitschaft und ein funktionierendes Mobilmachungssystem – wie wir seit Corona wissen –, eine professionelle Kaderausbildung und die verstärkte regionale Verankerung. Im Weiteren verfügt die Armee – etwa im Vergleich zu Deutschland oder Österreich – über ein intaktes Gesamtsystem aus Luftwaffe, Bodentruppen, Cyberabwehr, Logistik und Führungsunterstützung. Die Grundlagenpapiere Luft, Boden und Cyber bilden den «Masterplan» für eine plangemässe Modernisierung der Armee.
Trotzdem: Der Zustand unserer Armee ist teilweise besorgniserregend. Sie hat drei Aufträge zu erfüllen: kämpfen, schützen und helfen. Zwei davon erfüllt sie gut. Mit den drei Assistenzdienst-Einsätzen in der Pandemie hat sie bewiesen, dass sie wirkungsvoll helfen kann. Den Auftrag «schützen» erfüllt sie ebenfalls gut, wie sie bei internationalen Konferenzen unter Beweis stellt. Problematisch steht es um den Kernauftrag Verteidigung. Die Kompetenzen der Armee erreichen nicht die verlangte Tiefe. Die Ursachen liegen in der mangelhaften Verteidigungsfähigkeit der Armee XXI, die 2003 lediglich auf den Kompetenzerhalt reduziert wurde.
Der Bundesrat soll, nach Ermächtigung durch das Parlament, die Kampfjets unverzüglich kaufen.
Der Einkaufszettel
Die Folgerung: Die Schweizer Armee kann in einem Verteidigungskrieg nur ein paar wenige Wochen durchhalten, wie der Chef der Armee kürzlich in einem bemerkenswerten Interview zu verstehen gab. Auch nach 2003 wurde die Armee weiter verkleinert und das Budget stark reduziert. Hier gilt es, anzusetzen: Erhöhung des Sollbestands und des Armeebudgets.
Die Armee hat die richtigen Konsequenzen aus den aktuellen Bedrohungen des konventionellen Krieges in Europa abgeleitet. In erster Priorität müssen die schweren, robusten Bodensysteme erneuert werden, um die Abwehrfähigkeit markant zu verbessern. Dies belegt der Bericht «Zukunft der Bodentruppen» (2019), laut dem fast alle Waffensysteme in die Jahre gekommen sind und spätestens ab 2025 ersetzt werden müssen. Zu erwähnen sind die selbstfahrenden Panzerhaubitzen vom Typ M109 aus dem Jahre 1974, ausserdem die verschiedenen Schützenpanzer und der Leopard-Kampfpanzer sowie die Panzerabwehrwaffen. Der «Einkaufszettel» ist heute schon randvoll, so auch im Bereich der vollständigen Ausrüstung der siebzehn Infanteriebataillone.
Dieser Reformstau in den Hauptsystemen der Armee ist nun rasch anzugehen. Hierfür ist eine Aufstockung des Militärbudgets von fünf auf sieben Milliarden Franken nötig. Langfädige und zeitraubende Analysen sind obsolet, denn der Bedarf ist, gestützt auf die drei Grundlagenpapiere Boden, Luft und Cyber, ausgewiesen. Mit einer Erhöhung der Militärausgaben beschleunigen wir insbesondere den zeitintensiven Beschaffungsprozess.
Zudem können wir gewisse Projekte im Rahmen der bisherigen Planungen vorziehen. Eines dieser Projekte wäre der neue 12-cm-Mörser 16 (Cobra), dessen Einführung sich wegen Qualitäts- und Sicherheitsmängeln seit Jahren verzögert. Mit der Beschleunigung kann wertvolle Zeit zugunsten der Verteidigungsfähigkeit gewonnen werden. Und mit den zusätzlichen Mitteln werden die Schweiz und ihre Bevölkerung schneller und besser geschützt.
Kampfjetkauf ohne Wenn und Aber
Problematisch steht es um den Kernauftrag Verteidigung.
An seiner Sondersession im Mai debattiert der Nationalrat aus Anlass des Ukraine-Krieges über höhere Armeeausgaben. Die Milizorganisationen begrüssen die schnelle Handlungsweise des Parlaments. Sie erwarten vom Nationalrat eine unprätentiöse, schrittweise Aufstockung des Budgets und vom Ständerat in der Sommersession die positive Erledigung einer analogen Motion.
Es wäre dies ein starkes parlamentarisches Signal zugunsten der überfälligen Modernisierung und Revitalisierung der Armee. Zudem gewänne unser Land an Glaubwürdigkeit gegenüber unseren Nachbarstaaten, die von der Schweiz einen ernsthaften Beitrag für eine gesamtheitliche europäische Sicherheitsarchitektur erwarten dürfen.
Wie der Ukraine-Krieg zeigt, spielen Kampfflugzeuge eine eminent wichtige Rolle im modernen Gefechtsfeld. Sie sind als zentrales Element des Gesamtsystems Armee schlicht unverzichtbar. Die vom Bundesrat vorgeschlagenen 36 amerikanischen F-35A sind ein veritabler Glücksfall für unsere Armee. Sie sind nicht nur die für unsere Zwecke mit Abstand besten, sondern auch die preisgünstigsten Flugzeuge – und interoperabel. Die Zeit drängt auch hier, weil die alten F/A-18 im Jahr 2030 das Ende ihrer Lebenszeit erreichen. Die scheinheilige und verkorkste «Stop F-35»-Initiative von SP, Grünen und GSoA ist völlig weltfremd. Wir erwarten zumindest von der SP als Bundesratspartei realpolitische Räson, indem sie die laufende Volksinitiative rasch und solidarisch zurückzieht.
So oder so, der Bundesrat soll, nach vorgängiger Ermächtigung durch das Parlament, die Kampfjets unverzüglich kaufen. Nicht der Bundesrat, sondern die Initianten umgehen die Demokratie, indem sie das Volks-Ja vom Herbst 2020 torpedieren.
Kommt hinzu, dass Vernetzung und Digitalisierung immer wichtiger werden, sei es in der Luft oder am Boden. Cyber-Aktivitäten ersetzen die herkömmlichen Bedrohungen nicht, sondern machen sie gefährlicher. Gemäss dem jüngsten Projektbericht des Verteidigungsdepartements (VBS) besteht in der Cyberabwehr dringender personeller Handlungsbedarf.
Die Bestände bereiten indes nicht nur im Cyberbereich Sorgen. Die Alimentierungsproblematik bei der Armee und beim Zivilschutz ist generell als dramatisch zu bezeichnen. Die wegweisenden Entscheide des Bundesrats im März zur nachhaltigen Sicherstellung der Bestände kommen deshalb nicht zu spät.
Dabei hat das Modell «Sicherheitsdienstpflicht» für die Milizverbände erste Priorität. Es sieht vor, dass der Zivildienst mit dem Zivilschutz zum Katastrophenschutz fusioniert und das akute Bestandsproblem in Armee und Zivilschutz schnell und ohne die Hürde einer unüberwindbaren Bundesverfassungsrevision gelöst wird.
Obligatorium für Frauen
Es hätte im Weiteren den Vorteil, dass man die Teilnahme am Orientierungstag der Armee auch für Frauen obligatorisch machen könnte. Dies wäre ein richtiger Schritt für die nötige Erhöhung des Frauenanteils in der Armee. Angesichts der dramatischen sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa schlagen wir jedoch ein schnelleres Vorgehen des Prüfprozesses bis Ende 2023 vor statt, wie vom Bundesrat terminiert, bis Ende 2024. Beschleunigung ist auch hier für die Armee das Gebot der Stunde.
Der Ukraine-Krieg und die laufenden Grossprojekte bei den Bodentruppen, der Luftverteidigung, der Cyberabwehr und der Weiterentwicklung des Dienstpflichtsystems erheben das VBS mit seiner Armee zu einem absoluten Schlüsseldepartement. Zu Recht!
Oberst i Gst Stefan Holenstein ist Präsident der Landeskonferenz der militärischen Dachverbände (LKMD). www.lkmd.ch