Neue Zürcher Zeitung, Andreas Rüesch, 04.02.2023
Als im vergangenen Juni die ersten amerikanischen Raketenwerfer des Typs Himars in der Ukraine auftauchten, veränderte sich die militärische Lage innerhalb weniger Wochen. In nächtlichen Angriffen mit dieser Präzisionswaffe gingen Dutzende von russischen Munitionsdepots in Flammen auf und kamen zahlreiche Kommandoposten unter Beschuss. Die russischen Besetzer reagierten verblüffend langsam und verschoben erst in den folgenden Monaten ihre wichtigsten Einrichtungen in Gebiete ausserhalb der Himars-Reichweite von rund 75 Kilometern. Nun müssen sie erneut um ihre Sicherheit bangen.
Mit der amerikanischen Entscheidung, der Ukraine noch weiter reichende Munition zu liefern, gelangen erstmals alle nach der Invasion okkupierten Gebiete in die Reichweite der ukrainischen Raketenartillerie. Wie das Pentagon am Freitag bekanntgab, wird Kiew im Rahmen des jüngsten, mehr als zwei Milliarden Dollar teuren Militärhilfe-Pakets auch sogenannte «Ground-Launched Small Diameter Bombs» (GLSDB) erhalten. Es handelt sich um eine neu entwickelte, noch nirgendwo – nicht einmal in der amerikanischen Armee – eingesetzte Präzisionsbombe. Sie erreicht laut den Herstellern Boeing und Saab Ziele in 150 Kilometern Entfernung, kann also doppelt so weit wie die Himars-Raketen fliegen.
Hochpräzis und leicht verfügbar
Wie bei Himars gilt die durch GPS-Steuerung erreichte Treffsicherheit – mit einer Abweichung von angeblich nur einem Meter – als sehr hoch. Obendrein sprechen Militärexperten von einer relativ kostengünstigen, einfach herstellbaren Waffe. Dies liegt daran, dass es eine Kombination zweier Rüstungsgüter ist, die sich seit längerem in den amerikanischen Arsenalen befinden. Die Neuentwicklung besteht darin, eine seit 2006 von der Luftwaffe verwendete präzisionsgelenkte Gleitbombe mit einem in der Artillerie genutzten Raketenmotor zu verbinden.
Die Waffe wird mithilfe von Mehrfachraketenwerfern am Boden gestartet; nach der Abtrennung des Motors gleitet die Bombe mit ihrem 93 Kilogramm schweren Sprengkopf selbständig weiter und kann laut den Entwicklern auf ihrer Flugbahn auch Richtungsänderungen vornehmen.
Falls die GLSDB in nennenswerter Zahl in die Ukraine gelangen, würden sich die Verteidiger einen neuen Trumpf verschaffen. Bis jetzt sind wichtige Versorgungsrouten und Depots der russischen Truppen im Süden und ganz im Osten des Landes ausser Reichweite der ukrainischen Waffen. Künftig können Kiews Streitkräfte Verkehrsknotenpunkte wie Luhansk, Logistikzentren wie den Bahnhof Sokolohirne oder Militärstützpunkte wie Berdjansk unter Beschuss nehmen.
In Reichweite kommt erstmals auch die russische Luftwaffenbasis Dschankoi im Norden der annektierten Halbinsel Krim. Diese hat wegen ihrer Nähe zur Front für den russischen Luftkrieg grosse Bedeutung. Der Kreml könnte sich gezwungen sehen, seine Flugzeuge, Helikopter und Drohnen auf Anlagen in grösserer Entfernung zu verlegen.
Zusätzlicher Trumpf bei einer Offensive im Süden
Russlands Truppen und Besatzungsbehörden geraten im bisher unangreifbaren Küstenstreifen am Asowschen Meer potenziell in eine prekäre Situation. Die Moskau-treue Verwaltung der Provinz Cherson beispielsweise hatte sich nach dem Rückzug aus der gleichnamigen Grossstadt im November ins Städtchen Henitschesk ganz im Süden zurückgezogen; künftig gerät auch diese provisorische «Hauptstadt» ins Visier. Gelingt es den Ukrainern, die feindlichen Einheiten im Hinterland mit solchen Angriffen zu schwächen und deren Versorgung empfindlich zu stören, steigen ihre Chancen auf eine erfolgreiche Gegenoffensive im Süden.
Derzeit scheinen sie dazu noch nicht in der Lage; jedenfalls gibt es zahlreiche Berichte darüber, dass Russland seine Truppen in der Südprovinz Saporischja deutlich verstärkt und auf einer Länge von vielen Kilometern Verteidigungsstellungen errichtet hat. Den USA geht es offensichtlich darum, den Ukrainern weitere Mittel gegen die Okkupanten in die Hand zu geben.
Die von Kiew ebenfalls gewünschten Präzisionsraketen des Typs ATACMS, die sogar eine Reichweite von 300 Kilometern haben, verweigert Washington jedoch weiterhin. Mit dieser Waffe könnte das ukrainische Militär die gesamte Krim ins Visier nehmen und sogar die Krim-Brücke im Osten beschiessen. Doch dies betrachten die Amerikaner derzeit wohl als zu grosse Provokation für die Atommacht Russland.