NZZ, Georg Häsler, Bern, 03.10.2023
Die Schweiz hat das Momentum der Zeitenwende verpasst. Es fehlt ein Gespür für die geopolitischen Veränderungen – oder etwas deutlicher ausgedrückt: Der Bundesrat weigert sich bis heute, die Renaissance der Machtpolitik als Trend zu erkennen.
Das Palaver hat nie mehr aufgehört. Es ist, als sässen der Grossvater und sein Enkel Jonas noch immer am Kaminfeuer und diskutierten über eine Schweiz ohne Armee. Das Theaterstück, das Max Frisch im Herbst 1989 auf die Bühne brachte, läuft weiter und weiter. «Die Armee abschaffen, das würde bedeuten, dass eine andere Schweiz entsteht», sinniert der Grossvater. «Und um das zu verhindern . . .», Jonas, der Enkel, beendet den Satz selbst, «. . . brauchen sie die Armee.»
Sie – das distanzierte Pronomen stand im linken Polit-Jargon der Zeit kollektiv für das bürgerliche Establishment, eine unpersönliche Mehrzahl aus Direktoren, Professoren, Anwälten und gleichzeitig hohen Offizieren. Doch genau sie erholten sich nach 1989 nie mehr richtig von den 35,6 Prozent Ja-Stimmen zur Volksinitiative, die damals die Abschaffung der Schweizer Armee forderte. Es entstand – ganz allmählich – eine andere Schweiz.
Die Utopie der Armeeabschaffer wandelte sich zu einem Gemeinplatz. Die Berliner Mauer war gefallen, die Bedrohung aus dem Osten schien über Nacht gebannt zu sein. Die Armee hatte nun «immer diese Schwierigkeiten mit den Krediten, weil der Ernstfall auch keine Anstalten machte einzutreten», stichelte der zornige Schriftsteller Niklaus Meienberg. Die Linke sorgte für den Hohn und den Spott, die bürgerliche Mehrheit half kräftig mit, während Jahren das Militärbudget zusammenzustreichen.
«Leibgarde der Plutokratie»
Am Tag der Verfassung, der Feier für den modernen Bundesstaat im Bundeshaus am 12. September dieses Jahres, fehlte die Armee ganz. Ein neues Establishment, das unter anderem mit dem Slogan «Stop the Army» politisiert worden war, hat übernommen– inklusive Umdeutung der Geschichte. 1848 wird als nüchterne Form von Patriotismus ohne Sinn für die Sentimentalität und die Symbolik verstanden. Die Armeeführung mit ihrem Edelweiss auf den Schultern hätte da nur gestört.
Dabei gehörte gerade der Ruf nach einer Volksbewaffnung 1848 zu den Kernforderungen der europäischen Märzrevolutionen. Die durch und durch republikanische Idee des Bürgers in Uniform scheiterte praktisch überall, nur in der Schweiz konnte sich das Konzept nachhaltig durchsetzen. Die Armee etablierte sich als zentrales Instrument des jungen Bundesstaats. Die erste Mobilmachung erfolgte bereits 1856, als Preussen den Anspruch auf Neuenburg militärisch durchsetzen wollte.
Natürlich hatte die Schweiz vor allem Glück: Die Armee war taktisch schlecht aufgestellt, der Gegner waren haushoch überlegen, aber der Wille, das Land und auch die Demokratie gegen den preussischen König zu verteidigen, stärkte das neue Nationalgefühl. Später strapazierte die Forderung nach der Kriegstauglichkeit den Geist der Bürgerarmee – und noch mehr die Einsätze während des Landesstreiks von 1918 oder gegen antifaschistische Demonstranten in Genf.
Genau daraus nährte sich das Narrativ, die Armee sei letztlich eine «Leibgarde der Plutokratie», wie Frisch in seinem Palaver palavert. Eine Garde, die eine «real existierende Demokratie der Lobbys, getarnt durch Folklore», verteidige. Solch präzis formulierte polemische Sätze schaffen die berufsbewegten Schweiz-Kritiker von heute nicht mehr, aber ihre Slogans erinnern an die Rhetorik von damals: ob bei der Konzernverantwortungsinitiative oder dem Versuch, die Schweiz zu entwaffnen.
Als stellte der Bundesrat den Klimawandel infrage
In vorauseilendem Gehorsam antizipierte das Verteidigungsdepartement (VBS) in den vergangenen Jahrzehnten die Vorbehalte von links, noch bevor irgendjemand eine Kampagne gestartet hatte. Beim Rüstungskonzern des Bundes, bei der Ruag, verstand man Rüstungsgüter als Reputationsrisiko. Alles, was explodieren kann, musste weg. Unterdessen ist die Schweiz nicht mehr in der Lage, die Armee-Munition eigenständig zu produzieren: weder Gewehrpatronen noch Artillerie- noch Handgranaten.
Zudem sind die privaten Rüstungsbetriebe heute weitergehend im Besitz ausländischer Konzerne. Die Schweiz ist bei der Beschaffung neuer Waffensysteme fast ganz vom Ausland abhängig. Immerhin sind heute noch das Know-how, etwas Produktion und vor allem Innovationsgeist vorhanden. Doch die Schweizer Rüstungsindustrie ist in ihrer Existenz bedroht. Das super restriktive Kriegsmaterialgesetz verhindert selbst die Wiederausfuhr ihrer Produkte in die Ukraine, die vom Selbstverteidigungsrecht der Uno-Charta Gebrauch macht.
Die Schweiz hat das Momentum der Zeitwende verpasst. Es fehlte zunächst ein Gespür für die geopolitischen Veränderungen – oder etwas deutlicher ausgedrückt: Der Bundesrat weigerte sich, die Renaissance der Machtpolitik als Trend zu erkennen; ähnlich, wie wenn die Landesregierung den Klimawandel leugnen würde. Ein Teil der Schweizer Diplomatie glaubt bis heute, Russland brauche einfach etwas Respekt und wäre dann schon kompromissbereit.
Missionarische Friedenspolitik, kombiniert mit dem Alleingang
Dass der designierte Chef des neuen Staatssekretariats für Sicherheitspolitik (Sepos) im VBS, Botschafter Jean-Daniel Ruch, mit dieser Haltung mindestens sympathisiert, ist irritierend. Die VBS-Chefin, Bundesrätin Viola Amherd, dürfte mit seiner Nomination auf die zuweilen schon fast antiwestliche Stimmung im Bundesrat reagiert haben. Die Kriegsrausch-Kritik von Bundespräsident Alain Berset verbindet sich mit der verbissenen Neutralitätspolitik der SVP-Bundesräte.
Ob Ruch der Richtige ist, um den Widerspruch zwischen dieser Art von Neutralität und einer für beide Seiten ausgeglichenen, militärischen Kooperation auszubalancieren, muss Bundesrätin Amherd wissen. Ihr Staatssekretariat bleibt so oder so ein erratisches Konstrukt: Bei allem Verständnis für den Koordinationsbedarf einer modernen, umfassenden Sicherheitspolitik kann das neue Staatssekretariat als weitere Marginalisierung der Armee und der klassischen Landesverteidigung im VBS-Machtgefüge verstanden werden.
So erstaunt es auch nicht, dass die Armee voraussichtlich 25 eigene Leopard-2-Kampfpanzer abgeben muss, um den aussenpolitischen Schaden der bundesrätlichen Irrwege ein wenig auszubügeln. Auch wenn es richtig ist, damit die Ukraine-Lücken der Bundeswehr oder einer anderen Nato-Armee aufzufüllen und damit einen Beitrag zur Sicherheit Europas zu leisten: Der Entscheid kam im Parlament vor allem zustande, weil die Weitergabe auch der tief verinnerlichten Logik der Abrüstung entspricht.
Das ist keine souveräne Sicherheitspolitik, sondern eine Fortsetzung des Palavers, das schon zum Verzicht auf die Festungsminenwerfer entlang der Landesgrenze oder zu der Vernichtung der Kanistermunition der Artillerie geführt hat. Die Idee einer missionarischen Friedenspolitik und der Mythos des Alleingangs verhindern klare strategische Entscheide. Politische «quick wins» vertragen sich nicht mit einer langfristig ausgelegten Konzeption der Landesverteidigung.
Ein angemessener Stellenwert für die Armee
Doch der Cocktail aus Unsicherheit, Spardruck und Abbau hat die Armeeführung stimuliert: Statt einzelnen Panzern nachzutrauern, will sie die Verteidigungsfähigkeit nun umfassend und digital vernetzt wiederherstellen. Der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, definierte Mitte August in seinem «schwarzen Buch» das Ambitionsniveau – und versah dieses auch gleich mit einem Preisschild: 13 Milliarden Franken für den allerersten Wiederaufbauschritt.
Das ist neu – und bemerkenswert: Ein Chef der Armee, der sagt, was er braucht, um seinen Auftrag minimal zu erfüllen. Süssli rechnet mit dem Versprechen des Parlaments, das Armeebudget bis 2030 auf 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. Die finanziellen Rahmenbedingungen dürften sich allerdings verändern: Weil der Bund während der vergangenen Legislatur mit dem Geld nur so um sich geworfen hat, schlägt die Landesregierung vor, die Erhöhung der Armeeausgaben bis 2035 zu erstrecken.
Damit wird ein liberaler Zielkonflikt provoziert: Gesunde Bundesfinanzen sind für die Schlagkraft der Schweiz in unsicheren Zeiten ebenso wichtig wie eine starke Armee als strategische Reserve. Gefragt wäre die FDP: Mitten im Wahlkampf fehlt gewichtigen Freisinnigen aber der Mut, laut und klar zum sicherheitspolitischen Programm ihres Parteipräsidenten Thierry Burkart zu stehen: mehr Geld für die Armee, mehr Kooperation mit der Nato und mehr Handlungsfreiheit für die Rüstungsindustrie.
Der Ständerat hat am zweitletzten Tag der Legislatur den Versuch unternommen, mit einer dezenten Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes den Produktionsstandort Schweiz zu retten – ein Schritt in die richtige Richtung, unterstützt von pragmatischen Vertretern der SVP. Es wäre also nicht so schwer, die Selbstentwaffnung der Schweiz zu stoppen. Doch der sture Neutralitätskurs ganz rechts gefährdet jede Koalition zugunsten einer nachhaltige Sicherheitspolitik – und begünstigt fahrlässig die institutionalisierte Utopie der Abrüstung.
Damit sich die Bürgerinnen und Bürger auch weiterhin persönlich für die Landesverteidigung engagieren, braucht die Armee wieder einen angemessenen Stellenwert in der Politik und der Gesellschaft. Ein globalisierter Kleinstaat muss sich starke Streitkräfte leisten, auch als Zeichen seiner inneren Kraft. Das ständige Palaver schadet einem zentralen Zweck der modernen Schweiz. Die Nachkommen von Jonas und seinem Grossvater schauen amüsiert zu.