Die Armee muss wehrfähiger werden, sonst ist die Schweiz Trittbrettfahrerin und die bewaffnete Neutralität eine Illusion. Zu behaupten, deswegen müsste die Schuldenbremse ausser Kraft gesetzt oder die Steuern erhöht werden, ist Augenwischerei.
NZZ, Peter A. Fischer, 08.12.2023, 05.30 Uhr
Die Beschaffung des F-35 als neues Kampfflugzeug für 6 Milliarden ist erst der erste Schritt beim Wiederaufbau der Armee.
Um ein Land verteidigen zu können, braucht es Panzer. Unter der kurz nach dem Fall der Mauer beschlossenen «Armee 95» gab es fünf Panzerbrigaden, ausgerüstet mit ungefähr 370 Leopard-2-Panzern. Das erlaubte es, die Grenzen und Transversalen gegen Angriffe aus mehreren Richtungen zu sperren, so wie es die Ukraine beim Angriff der Russen tun musste.
Heute ist die Schweizer Armee laut «Zielbild 2030» noch gegen einen Stoss von einer einzigen Seite verteidigungsfähig – mit drei Panzerbrigaden, von denen eine nur auf dem Papier existiert. Die verbliebenen zwei verfügen noch über 134 Panzer, die spätestens bis 2030 modernisiert werden sollten. Doch bereits der dringend notwendige Kauf von 36 F-35-Kampfjets (das bevölkerungsmässig und wirtschaftlich kleinere Finnland kauft 64 davon) kostet 6 Milliarden – und die Modernisierung der Bodentruppen ist noch alles andere als gesichert.
Das reichste Land Europas in Not
Sowohl für die Panzer wie für die Artillerie, welche den Gegner abhalten müsste, reicht die Munition knapp für den laufenden Übungsbetrieb. Wie leer die Munitionslager sind, ist geheim. Ziemlich gesichert ist jedoch, dass der Schweiz im Ernstfall nach wenigen Tagen die Munition ausgehen würde.
Bombenalarme gehören in weiten Teilen der Ukraine inzwischen zum traurigen Alltag. Zum Glück fangen moderne Abwehrsysteme einen Grossteil der auf militärische und zivile Infrastruktur zielenden russischen Raketen ab. Die Schweiz hat derzeit kein funktionierendes solches System, um etwa ihre Energieinfrastruktur wirksam zu schützen. Erste Abhilfe sollen demnächst Patriot-Raketen bringen, bei denen die Eidgenossenschaft ebenso wie bei den Kampfjets auf die Lieferbereitschaft der USA angewiesen ist. Und um beispielsweise aus dem Mittelmeer abgefeuerte Mittelstreckenraketen wirksam abfangen zu können, brauchte es wohl eine gut eingeübte Kooperation mit dem Nato-Staat Italien.
Kurzum: Anspruch und Wirklichkeit der bewaffneten Schweizer Neutralität klaffen in einem erschreckenden Mass auseinander. Grund dafür ist die «Friedensdividende», die die Schweiz wie kaum ein anderes Land für sich in Anspruch genommen hat. In der EU sank der Anteil der Wirtschaftsleistung, der für die Armee aufgewendet wurde, von 1990 bis 2014 von 2,4 auf 1,3 Prozent. Die Schweiz reduzierte ihre Armeeausgaben derweil von 1,6 auf 0,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Selbst wenn man konzediert, dass das Schweizer Milizsystem Vollkosten von rund 0,4 Prozent des BIP ausblendet, die etwa für Löhne in einer Berufsarmee zusätzlich anfallen würden, ist das im internationalen Vergleich ausserordentlich wenig.
Die Schweiz hat am meisten Friedensdividende kassiert
Die Schieflage zeigt sich erst recht, wenn man absolute Ausgaben vergleicht. Seit 1992 hat Russland seine Ausgaben fürs Militär real um zwei Drittel erhöht, die USA um knapp einen Drittel. Finnland und Norwegen geben fürs Militär vier Fünftel mehr aus, Schweden einen Drittel. Deutschland hingegen hat seinen Aufwand für die Armee um zwei Prozent reduziert, die Schweiz um einen rekordverdächtigen Fünftel!
Zu glauben, es gäbe in Europa nie wieder einen konventionellen Krieg, war leider naiv. Viele Staaten erkannten das schon beim blutigen Zerfall von Jugoslawien; spätestens mit Russlands Annexion der Krim hätte es offenkundig werden sollen. Ruchlose Potentaten wie Wladimir Putin verstehen offensichtlich nur die Sprache der Stärke. Wer sich nicht glaubhaft verteidigen kann, darf sich nicht mehr sicher fühlen.
Unter dem Begriff der Zeitenwende hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz zumindest rhetorisch die Konsequenzen gezogen. In der Schweiz hingegen debattieren Bundesrat und Parlament, ob eine Erhöhung der Militärausgaben von derzeit 0,76 Prozent des BIP auf 1 Prozent zumutbar sei und ob dies bis 2030 zu schaffen wäre – oder doch erst 2035, wie vom Bundesrat vorgeschlagen.
Dass das – abgesehen von einigen Kleinstaaten – reichste Land Europas finanziell nicht in der Lage sein soll, eine einsatzfähige Armee zu finanzieren und dafür ungefähr 1 Prozent seiner Wirtschaftsleistung beziehungsweise zusätzliche 0,25 Prozentpunkte des BIP auszugeben, wirkt angesichts der Bedrohungslage wie ein Hohn.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Schweiz droht sich aufs Trittbrettfahren zu verlegen und offiziell auf ihre bewaffnete Neutralität zu pochen, tatsächlich jedoch auf den impliziten Schutz durch die Nato zu vertrauen. Dass das bei den USA und ihren Verbündeten auf wachsendes Unverständnis stösst, kann nicht verwundern.
Zum Glück gibt es die Schuldenbremse
Höchste Zeit also für eine rasche Korrektur, wie sie das bürgerlich dominierte Parlament vom Bundesrat zu Recht verlangt. Das sei nur möglich, wenn die zusätzlichen Ausgaben fürs Militär an der Schuldenbremse vorbeifinanziert oder durch Steuererhöhungen gedeckt würden, tönt es aus Bern. Doch auch das ist heuchlerisch.
An der Erhöhung der Verteidigungsausgaben ist nichts ausserordentlich oder unvorhersehbar. Wer jetzt die Schuldenbremse aushebeln will, kehrt zurück zu den Zuständen Anfang der 1990er Jahre, die zur Einführung der schweizerischen Schuldenbremse geführt haben. Weil Bundesrat und Parlament damals regelmässig zum Schluss kamen, dass die notwendigen Ausgabenkürzungen nicht zumutbar seien, explodierten die Schulden des Bundes innerhalb von 12 Jahren von 38,5 auf 122 Milliarden Franken. Erst die Schuldenbremse vermochte der Unfähigkeit der Politik, zu sparen, Einhalt zu gebieten – zum Glück gibt es sie!
Dass es nicht möglich sein soll, die Zusatzausgaben für die Armee durch Einsparungen andernorts zu kompensieren, ist schwer vermittelbar. Es geht um rund 2 Milliarden Franken bei für das nächste Jahr geplanten Gesamtausgaben des Bundes von 89,7 Milliarden Franken (notabene 3,5 Milliarden mehr als im Vorjahr).
Bund, Kantone und Gemeinden nehmen den Privaten in der Schweiz bereits jeden dritten Franken. Statt den privaten Konsum durch staatliche Ausgaben weiter zu verdrängen, gilt es den Übermut der Corona-Jahre zu korrigieren. Dafür sind Bundesrat und Parlament da: um auch an den sogenannt gebundenen Ausgaben gesetzgeberische Korrekturen vorzunehmen und Prioritäten zu setzen.
Sparpotenzial gibt es genug
Seit 1990 haben sich die Ausgaben des Bundes real verdoppelt und die Sozialausgaben mehr als verdreifacht, während die Wirtschaftsleistung «nur» um zwei Drittel gewachsen ist. Allein für die AHV gibt der Bund inzwischen zweieinhalb Mal so viel aus wie für die Landesverteidigung. Dabei gehört Sicherheit zu den Kernaufgaben des Staates und war die AHV als von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziertes Sozialwerk gedacht. Indem der Bund immer mehr bezahlt, werden bloss die Kosten der mangelnden Bereitschaft, das Pensionsalter anzuheben, verwischt.
Ausgaben für Soziales verdreifacht – für Sicherheit um einen Fünftel reduziert
Laut dem Subventionsmonitor des Instituts für schweizerische Wirtschaftspolitik (IWP) an der Uni Luzern plant der Bund dieses Jahr 48,5 Milliarden Franken für Subventionen auszugeben, von denen die Ökonomen 6,7 Milliarden als volkswirtschaftlich schädlich taxieren.
Allein die Subventionen für den öffentlichen Verkehr sind seit 1990 real um vier Fünftel gestiegen. Die Ausgaben für Energie haben sich von 50 Millionen Franken auf dieses Jahr geplante 5,9 Milliarden verhundertachtzehnfacht. Dabei werden zu einem guten Teil Investitionen subventioniert, die sowieso geschehen würden. Viel wirkungsvoller wäre eine Rückbesinnung auf aufkommensneutrale Lenkungsabgaben, die Emissionen verteuern und Einsparungen belohnen. Richtig gemacht, könnten gerade auch Einkommensschwache davon profitieren.
Ob bei den Sozialausgaben, im Verkehr, in der Energiepolitik, der viel zu intensiv betriebenen Schweizer Landwirtschaft oder bei den Staatsangestellten, deren Zahl überproportional gewachsen ist und die im Durchschnitt mehr verdienen als in der Privatwirtschaft: Einsparungsmöglichkeiten gäbe es zuhauf. Man muss nur sparen wollen beziehungsweise müssen.
Es geht um eine simple Frage
Die Frage, die sich stellt, ist simpel: Wollen wir ein Heer von friedliebenden Heuchlern und Trittbrettfahrern sein, oder meinen wir es ernst mit unserer Armee, der bewaffneten Neutralität und dem haushälterischen Umgang mit Steuergeldern? Hoffentlich tun wir das, sorgen mit einer Erhöhung der Armeeausgaben bis spätestens 2030 dafür, dass man unsere Wehrhaftigkeit wieder ernst nehmen muss, und halten dabei die Schuldenbremse ein, ohne auf Steuererhöhungen einzuschwenken.
Höhere Einnahmen brauchte der Bund nämlich nicht wegen des Militärs, sondern weil er generell immer mehr Geld verteilen will und unfähig ist, zu sparen, statt finanzpolitische Prioritäten zu setzen. Der kurzfristig vermeintlich einfachere Weg der zusätzlichen Steuern und Abgaben wäre mittelfristig viel kostspieliger und erschöpfender – und eine Bankrotterklärung der Politik.